Alles Körner – oder was?
Ich hatte das Ökotrophologie-Studium gerade abgeschlossen, als mit Beginn der 1980er Jahre eine Bewegung einsetzte, die so manches Erlernte in Frage stellte: die Vollwert-Ernährung. An der Universität Gießen machte ein visionärer Ernährungs-Professor namens Leitzmann von sich reden. Unter den Kommilitoninnen gab es welche, die eine handbetriebene Getreidemühle besaßen und selbstgeschriebene Rezept-Büchlein zur neuen Körnerküche verkauften. Auch wenn die Kuchen bröselten und staubten, und Grünkern-Bratlinge, die es jetzt bei allen Veranstaltungen gab, schnell eintönig wurden – der Ansatz gefiel mir.
Gesunde Vollwert-Küche
Es ging um naturbelassene, saisonale und regionale Lebensmittel, um artgerechte Tierhaltung, um faire Preise für die Bauern, Wertschöpfung vor Ort und um eine gerechte Weltwirtschaft. Gesund und vollwertig zu essen war gleichbedeutend mit wenig Fleisch, viel Gemüse, Hülsenfrüchten und Vollkorngetreide. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, lautete ein oft zitierter Satz. Äpfel sind wertvoller als Apfelbrei, Vollkornbrot nährstoffreicher als Weißbrot. Welcher Ernährungs-Experte konnte dem schon widersprechen.
Da traf es sich gut, dass Ingrid Früchtel sich dieser Bewegung anschloss. Die Kochbuch-Schreiberin und später langjährige Rezept-Autorin von kraut&rüben war des Revoluzzertums völlig unverdächtig. Stattdessen glänzte sie als Biogärtnerin, Naturfreudin und Küchenfee. Sie pflanzte und erntete, kochte und backte, und unter ihrem Kochlöffel – sowie dem einiger anderer Pionierinnen – entwickelte sich die Vollwert-Ernährung vom Körnerfutter zur Gourmet-Küche. Leider haben es viele nicht bemerkt.
Die ersten Kochbücher, in denen es auch bei Ingrid Früchtel noch gestaubt hat, sind heute ein Zeitdokument. Wenn ich darin blättere und die fleckigen, mit Kommentaren (Spitze!, Sehr gut!) bekritzelten Rezepte lese, läuft in meinem Kopf der Film einer Zeit des Aufbruchs ab. Ich habe die alten Rezepte wieder ausprobiert, finde sie nach wie vor köstlich und habe mir vorgenommen, sie diesmal nicht mehr aus den Augen zu verlieren.
Und was sagen Sie dazu?
Artikel teilen
Weitere Funktionen